Die Fischbestände der besetzten Westsahara ziehen nicht nur das Interesse der marokkanischen Flotte auf sich: Auch andere internationale Akteure fischen in den besetzten Gewässern durch Vereinbarungen mit marokkanischen Behörden. Entlang der Küste der Westsahara hat sich ein ganzer verarbeitender Industriezweig entwickelt.
Es ist fast unmöglich, der Westsahara zu viel Bedeutung für den marokkanischen Fischereisektor beizumessen. Wie aus den Daten der marokkanischen Regierung hervorgeht, entfielen auf das Küstengebiet der Westsahara im Jahr 2020 etwa 73% der jährlichen industriellen und lokalen Fänge Marokkos. Der Wert der Fänge aus den Küstengewässern der Westsahara betrug 63,26% der marokkanischen Gesamtmenge für dasselbe Jahr.
Die Flotte der Europäischen Union operiert in den besetzten Gewässern durch ein illegales bilaterales Fischereiabkommen mit Marokko. Im Jahr 2018 hob der Gerichtshof der Europäischen Union die Anwendung des Abkommens auf die Westsahara auf, da Marokko keine Souveränität oder Rechtsbefugnis über die an das Gebiet angrenzenden Gewässer hat. Die EU-Institutionen ignorierten das Urteil und setzten die Praxis fort, nur dass sie diesmal die Westsahara explizit als Teil des Geltungsbereichs des Abkommens mit aufnahmen. Dieses geänderte Abkommen wurde im September 2021 vom EU-Gericht erneut für ungültig erklärt, da die Zustimmung des Volkes der Westsahara über ihre Vertretung, die Polisario-Front, nicht eingeholt worden war. Der Rat und die Kommission der EU haben gegen dieses Urteil Berufung eingelegt. Ein endgültiges Urteil wird für Ende 2023 erwartet.
Die umstrittene Fischereikooperation zwischen der EU und Marokko geht bis auf das Jahr 1988 zurück, als Spanien der EU beitrat. Im Rahmen der Aufgabe der Kolonie im Jahr 1975 hatte Spanien mit Marokko ein Abkommen geschlossen, das Marokko erlaubte, die Westsahara zu besetzen und Spanien als Gegenleistung Fischereirechte einbrachte. Als Teil des finanziellen Ausgleichs an Marokko für den Zugang zu den Fischbeständen von Marokko und der Westsahara finanziert die EU aktuell die Entwicklung des marokkanischen Fischereisektors. Der größte Teil dieser sektoralen Unterstützung wurde mit Zustimmung der EU für den Bau von Fischereiinfrastruktur auf besetztem Territorium verwendet. Die EU finanziert auf diese Weise Wohnungen für Siedler:innen, Hafeninfrastruktur, Gefrierhallen, Energie und Technologie in dem Teil der Westsahara, den Marokko unter militärischer Besatzung hält.
Der größte Teil der EU-Fischerei im Rahmen des Abkommens findet in der Westsahara statt. Eine von der EU-Kommission in Auftrag gegebene unabhängige Auswertung ergab, dass die industrielle pelagische Schleppnetzfischerei der Bestände der Westsahara 92% des Gesamtgewichts aller Fänge im Rahmen des Protokolls 2014-2018 ausmachten.
Die sahrauische Volk spricht sich schon lange gegen die Fischerei der EU in ihrem Territorium aus, und sie sind damit nicht allein. Der Autor des UN-Rechtsgutachtens zur Ausbeutung der Ressourcen der Westsahara, Hans Corell, hat den Missbrauch seines Textes durch die EU wieder und wieder verurteilt. Der ehemalige UN-Sondergesandte für die Westsahara, Francesco Bastagli, hat die Praxis der EU als Verstoß gegen internationale Verpflichtungen verurteilt.
Russische Trawler fischen in der Westsahara im Rahmen des russisch-marokkanischen Fischereiabkommens seit 1992 - etwa 10 russischen Trawlern wird eine jährlich neu festgelegte Quote zugestanden, im Durchschnitt etwa 140.000 Tonnen. Japans erstes Kooperationsabkommen mit Marokko war das Fischereiabkommen von 1985: Seitdem erhalten japanische Schiffe Fanggenehmigungen für Thunfisch und Bonito, andererseits bietet Japan finanzielle und technische Unterstützung, die Marokko für die Entwicklung des Fischereisektors in der Westsahara nutzt.
Internationale Verschiffung
Große Mengen des vor der Küste der Westsahara gefangenen Fisches werden nicht vor Ort angelandet. Stattdessen ankern Kühlschiffe neben großen Fischereischiffen vor der Hafenstadt Dakhla. Ein einziges dieser Kühlschiffe kann bis zu 5.000 Tonnen Fisch aufnehmen. Die Ladung wird dann vor allem zu Märkten in westafrikanischen Staaten transportiert.
Zum Vergleich: Die sahrauischen Flüchtlingslager, in denen die Hälfte der Bevölkerung der Westsahara lebt, erhielten jährlich 900 Tonnen Fischkonserven als humanitäre Hilfe, bis dies vor einigen Jahren aus finanziellen Gründen eingestellt wurde.
Green Reefers aus Norwegen, eine der Reedereien der Kühlschiffe, hat dabei besondere Aufmerksamkeit erregt. Im Jahr 2019 wurde eines der Schiffe des Unternehmens beinahe in Südafrika festgesetzt, das auch einen Haftbefehl gegen das Schiff an seine Nachbarländer verschickt hatte. Das Schiff plante, von der russischen Flotte vor der Küste des besetzten Gebiets gefangenen Fisch nach Südafrika zu transportieren.
Eine beträchtliche Menge des Fisches landet gefroren direkt in Spanien. Auf dem spanischen Markt angebotener Oktopus wird beispielsweise zu einem großen Teil vor Dakhla gefangen.
Der Tiefkühlfischsektor in der Westsahara ist größer als in Marokko selbst. Im Jahr 2020 waren 104 der 196 in Marokko tätigen Fisch-Tiefkühlunternehmen in der besetzten Westsahara ansässig.
Verarbeitende Industrie: Fischöl und Fischmehl
Der Bremer Hafen ist das Tor der EU zur Fischmehlindustrie in der besetzten Westsahara. Der Importeur Köster Marine Proteins ist der größte Fischmehlhändler Europas und nutzt die Hafenanlage Hansakai der Firma J. Müller – laut Eigenaussage das "größte und modernste Fischmehlterminal Europas". Das Fischmehl kann nach der Zollabfertigung in Containern oder großen Säcken auf Schiffe, Züge oder Lkw verladen werden. WSRW schätzt, dass die Bremer Importe etwa 12% des Wertes aller Fischereiprodukte ausmachen könnten, die jährlich aus der besetzten Westsahara in die EU exportiert werden.
WSRW hat im Dezember 2020 einen Bericht über den Fischmehlhandel veröffentlicht.
WSRW hat aufgedeckt, dass der Wert des Fischmehlhandels mit der Türkei einer der grössten Einnahmequellen der marokkanischen Ressourcenausbeutung in dem Gebiet ist. 2021 gab es 17 Schifftransporte in die Türkei, mit denen mehr als 50,500 Tonnen Fischmehl transportiert wurden. Der Wert dieser konservativen Schätzung kann allein im Jahr 2021 etwa 64 Millionen US Dollar betragen. Unsere Einschätzungen zeigen, dass es 2019 vermutlich größere Exporte gab.
2019 lieferten zwei Tanker Fischöl aus der besetzten Westsahara in den Hafen von Rotterdam, was die erste derartige Lieferung seit Januar 2017 darstellte, seit der Tanker Key Bay seine Fischöl-Ladung in Frankreich löschte. Die Firma Olvea, die als wahrscheinlichster Importeur gilt, hat auf Anfragen von zivilgesellschaftlichen Gruppen oder Medien in dieser Angelegenheit nie geantwortet. Welches europäische Unternehmen die Verschiffungen in den Niederlanden aufnimmt, ist noch ungeklärt. Bis zum Jahr 2010 war der führende Importeur von Fischöl aus der besetzten Westsahara die norwegische Firma GC Rieber. Der Handel, der ein Jahrzehnt lang lief, wurde eingestellt, nachdem skandinavische Medien über das Ausmaß der Importe berichtet hatten. GC Rieber importierte Fischöl direkt aus der Westsahara, aber auch über seine Raffinerie in Tan Tan, wo Fisch aus dem besetzten Gebiet raffiniert wurde. Die norwegische Regierung verurteilte das Unternehmen zur Zahlung von 1,2 Millionen Euro als eher symbolischen Betrag für nicht gezahlte Zölle, weil die Fischprodukte aus der Westsahara bei der Einfuhr nach Norwegen als marokkanisch deklariert wurden.
Im Jahr 2020 waren 10 der 23 in Marokko tätigen Fischöl- und Fischmehlhersteller in der besetzten Westsahara ansässig.
Keine nachhaltige Fischerei
Obwohl bereits eine unabhängige Analyse aus dem Jahr 2011 die fast völlige Erschöpfung der Bestände vor der Westsahara aufgezeigt hatte, ist die Fischereiaktivität bis heute ungebremst. Marokkanische Fischer sind in den Gewässern oft mit in Europa ausgemusterten Schiffen aktiv, wie der Bericht "Exporting Exploitation" von Greenpeace in Zusammenarbeit mit der WSRW aus dem Jahr 2014 zeigte. Der Evaluierungsbericht der EU aus dem Jahr 2017 über das Fischereiabkommen der Union mit Marokko enthüllte, dass mit Ausnahme von Sardinen alle pelagischen Arten "im Süden" - also in der Westsahara - entweder voll befischt oder überfischt waren, als Ergebnis jahrelanger intensiver Fischerei durch lokale, EU- und andere ausländische Flotten. Diese dramatische Schlussfolgerung wurde vom FAO-Fischereiausschuss für den östlichen Zentralatlantik (CECAF) Ende 2018 wiederholt.
Der jüngste verfügbare Bericht des wissenschaftlichen Ausschusses im Rahmen des Fischereiabkommens zwischen der EU und Marokko aus dem Jahr 2021 kommt zu demselben Ergebnis: Praktisch alle Arten, die im Rahmen des Abkommens in der Westsahara befischt werden, sind vollständig oder übermäßig befischt, mit Ausnahme der Sardinen, bei denen jedoch ein Abwärtstrend der Bestandsbiomasse zu verzeichnen ist, der zeitlich mit einer erhöhten Befischungsrate übereinstimmt.
Im maritimen Grenzgebiet der Westsahara zu Mauretanien findet in großem Umfang unregulierter Fischfang statt. WSRW beobachtet häufig Schiffe, die in mauretanischen Gewässern fischen dürfen, die Seegrenze zur Westsahara jedoch zum fischen überqueren. Alle möglichen Nationalitäten sind daran beteiligt: Schiffe unter EU-Flagge, aber auch Schiffe unter chinesischer, georgischer, kamerunischer, türkischer oder belizischer Flagge.
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Foto: Pierre Gleizes / Greenpeace Polen, aufgenommen am 5. November 2014, unverändert
Im Juli 2019 trat das neue Fischereiabkommen der EU mit Marokko in Kraft, was entgegen der Rechtssprechung des Europäischen Gerichtshofes die Gewässer der Westsahara einschließt. Marokko verteilt in dem Abkommen Lizenzen zum Plündern der Fischbestände des von ihm besetzten Territoriums. Seit Ende August fischt nun das deutsche Fabrikschiff „Helen Mary“ vor der Küste der besetzten Westsahara.
Mit der neuen Lieferung des Frachters NAJA am 14.09.2019 werden wieder Waren aus dem Kolonialkonflikt in Bremen umgeschlagen.
Dienstag kam ein Frachter im Bremer Holzhafen vermutlich mit einer neuen Ladung umstrittenem Fischmehls an.
Der Import von Fischmehl aus der besetzten Westsahara nach Deutschland ist größer als bisher angenommen.